Seit vielen Jahrhunderten ist das Südtiroler Unterland ein wichtiges Durchzugsgebiet für den Verkehr zwischen Nord und Süd. Schon im 1. nachchristlichen Jahrhundert verband eine „ausgebaute“ Straße als Teil der römischen Via Claudia Augusta die Städte Pons Drusi und Tridentum: Bozen und Trient. Aus diesem Grund florierte hier seit jeher der Handel mit allerlei Waren, darunter vor allem Holz, aber auch Tierfelle, Stoffe sowie Gewürze und Öle. Ein gut organisiertes Straßennetz und verlässliche Transportmöglichkeiten waren dabei ausschlaggebend, wie die Geschichte der Familie Perwanger beweist, deren Name in Auer untrennbar mit der gleichnamigen Gerberei verbunden ist und die maßgeblich von den technischen und infrastrukturellen Neuerungen der letzten 150 Jahre profitiert hat.
Schon zwischen 1840 und 1860 wurde im gesamten damaligen Tirol das Reichsstraßennetz ausgebaut, was mit der Entstehung heutiger Staatsstraßen vergleichbar ist.[1] Einen enormen Aufschwung brachte zeitgleich die Brennerbahn, deren Teilabschnitt Bozen-Verona 1859 fertiggestellt wurde – die Strecke nach Innsbruck war ab 1867 vollständig befahrbar. Ideengeber für das Mammutprojekt war Ingenieur Alois Negrelli.[2] In Auer ist heute eine Straße nach ihm benannt. Gleich neben dem neuen Bahnhof wurde etwas später die Station der Fleimstalbahn errichtet, die für die wirtschaftliche und touristische Entwicklung im Dorf besonders relevant werden sollte. Schon 1891 war von dieser Verbindung über den Luganopass die Rede gewesen, doch das angespannte Klima zwischen Innsbruck, Bozen und Trient erstickte die Verwirklichung im Keim. Erst der Krieg führte ab 1916 zu einer rapiden Beschleunigung des Projekts, da die Trasse Auer-Predazzo militärisch genutzt werden sollte (und wurde). Ab 1918 durften dann erstmals Zivilisten die Bahn nutzen und immer mehr Touristen fanden Gefallen am gemütlichen Reisen zwischen Unterland und Fleimstal.[3]
Um die Jahrhundertwende wurde das ehemalige Kronland modernisiert.[4] Das Interesse für die neuesten Errungenschaften der Technik machte auch vor der Gerberei Perwanger nicht halt. Gegründet wurde diese um 1770 von der Familie Hornsteiner – erst als eine Hornsteiner-Tochter Franz Perwanger heiratete, änderte sich der Firmenname. Um 1900 übernahm Josef Perwanger, genannt Peppi, den Betrieb in dritter Generation. Er hatte am 17. September 1886 in Auer das Licht der Welt erblickt. Sein Vater Franz Xaver war in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen und hatte seine Familie früh verlassen, um in Bozen das Gerberhandwerk zu lernen. Ausgestattet mit neuem Wissen kehrte er nach Auer zurück und übernahm den damals noch bescheidenen Handwerksbetrieb. Er stellte die Produktion auf Wasserkraft um, was eine moderne maschinelle Fertigung der Produkte ermöglichte.
Leder aus der Gerberei Perwanger wurde, so steht es in alten Geschäftsbüchern, sogar bis nach Wien geliefert.
Dem kam zugute, dass Pferdekutschen damals zunehmend durch motorbetriebene Transportmittel ersetzt wurden, was den Exportradius im Straßen- und Schienenverkehr erheblich erweiterte.
Peppi war ein leidenschaftlicher Tüftler. Die Lederproduktion war sehr aufwändig und es nahm bis zu zwei Jahre in Anspruch, ehe aus einer Tierhaut ein qualitativ hochwertiges Leder wurde, das als Schuhoberleder, Schuhsohlenleder und für Pferde- und Ochsengeschirre verwendet werden konnte. Die Nachfrage war groß, doch die Häute waren knapp, leicht verderblich und wurden von den Bauern langsam auf Pferdekarren nach Auer gebracht. Da hatte Peppi eine bahnbrechende Idee: Ein leistungsstarkes Transportmittel musste her! Gesagt, getan. Ein amerikanisches Motorrad der Marke Indian samt Beiwagen wurde angekauft, um so den eigenen Lieferradius zu erweitern, neue Einkaufsquellen zu erschließen und die Lederhäute schneller einzusammeln.
Peppi Perwanger gilt als der erste Motorradfahrer von Auer, während Gemeindearzt Dr. Gerber als erster Autobesitzer durchs Dorf fuhr. Bald legten sich auch die Holzfirma Bortolotti und die Obstfirma Steinkeller ein Auto zu, was beweist, dass mehrere lokale Wirtschaftstreibende damals schon die Bedeutung des motorisierten Verkehrs begriffen hatten. Getankt wurde an der Zapfsäule vor dem Geschäft der Familie Winnischhofer.[5]
Wer Peppi und seine Söhne noch nicht kannte, wurde durch das laute Motorrad definitiv auf sie aufmerksam, denn das spektakuläre Gefährt wurde gerne auch für private Ausfahrten genutzt. Eines Tages, so berichtet es die Geschichte, fuhren Peppis Söhne zu dritt auf dem Motorrad zum Skifahren, als es aus Überlastung in der großen Kehre von Montan auseinanderbrach. Kleinmütig trugen sie das wichtigste Transportmittel der Gerberei zu Fuß den ganzen Weg nach Hause. Dort konnte es zum Glück wieder zusammengeschweißt werden und hat der Familie viele weitere Jahre lang ein gutes Auskommen beschert.
Doch damit nicht genug der Innovationen. Um 1945 wechselten die Perwangers von Eichenrinde zu einem schnelleren Gerbverfahren, welches mineralische Komponenten nutzt und heute noch verwendet wird. Auch in der Firmenleitung kam es zu Umwälzungen: Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm Peppis Sohn Sepp die Leitung der Gerberei und stellte die Produktion von Wasserkraft auf Strom um. Seinem Vater nicht unähnlich, kannte er die geschäftlichen Vorteile einer großen Reichweite und hohen Mobilität. Er setzte alles daran, einen geländegängigen Transportwagen zu finden, was ihm schließlich mit dem Kauf eines amerikanischen Armee-Jeeps gelang. Jetzt konnte er entlegene Höfe erreichen und große Mengen an Häuten transportieren. Auch erweiterte er die Produktpalette um neue Ledersorten und konzentrierte sich auf die Produktion robuster Schuhleder, deren Herstellungsverfahren er durch viele Experimente stets perfektionierte. Heute leitet Lorenz Perwanger das Unternehmen, welches weltweit Marktführer in der Lederproduktion für den Berg- und Alpinsport, aber auch für Sicherheitsschuhe oder Motorradstiefel ist.
Doch all das hat Peppi Perwanger nicht mehr miterlebt, denn er starb am 30. November 1962. Sein Mut, Erfindungsreichtum und Weitblick stehen stellvertretend für ein bewegtes Kapitel der Aurer Dorfgeschichte, das von der Via Claudia Augusta über die Brennerbahn bis auf den Sattel eines amerikanischen Motorrads durch das 20. Jahrhundert ins neue Jahrtausend führt.
[1] Georg Zwanowetz, Verkehrsgeschichte des Südtiroler Unterlandes. Grundzüge und Hauptsachen, in: Südtiroler Kulturinstitut (ed.), Das Südtiroler Unterland, Athesia, Bozen 1980, 35-62.
[2] Hubert Held, Die Baugeschichte der Brennerbahn 1836-1867. Von München über Alttyrol nach Venedig – aus politischer, ökonomischer und technischer Perspektive, Studienverlag, Innsbruck 2018, 275f.
[3] Rolando Cembran, Eine Bahn ins Fleimstal. Geschichtlicher Abriss – Tauziehen zwischen Bozen und Trient – Wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung (1891-1963), Athesia, Bozen 2011.
[4] Gottfried Solderer (ed.), Das 20. Jahrhundert in Südtirol, vol. 1, Edition Raetia, Bozen 1999, 38f.
[5] Helmut Zelger, Auer im Südtiroler Unterland, Verschönerungsverein Auer, Auer 2006, 71-72.
Cembran, Rolando, Eine Bahn ins Fleimstal. Geschichtlicher Abriss – Tauziehen zwischen Bozen und Trient – Wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung (1891-1963), Athesia, Bozen 2011.
Held, Hubert, Die Baugeschichte der Brennerbahn 1836-1867. Von München über Alttyrol nach Venedig – aus politischer, ökonomischer und technischer Perspektive, Studienverlag, Innsbruck 2018.
Merkantilmuseum Bozen (ed.), Die Brennerroute. Eine europäische Verbindung zwischen Mittelalter und Neuzeit, Handelskammer Bozen, Bozen 2018.
Mitterer, Wittfrida, 150 Jahre Brennereisenbahn. Von der Postkutsche zur Hochgeschwindigkeit, Athesia, Bozen 2017.
Populorum, Michael Alexander, Eisenbahnarchäologische Exkursionen südlich des Brenners – Teil 3: Die k.u.k. Fleimstalbahn von Auer nach Predazzo, Mercurius Eigenverlag, Gröding/Salzburg 2012.
Solderer, Gottfried (ed.), Das 20. Jahrhundert in Südtirol, vol. 1, Edition Raetia, Bozen 1999.
Zelger, Helmut, Auer im Südtiroler Unterland, Verschönerungsverein Auer, Auer 2006.
Zwanowetz, Georg, Verkehrsgeschichte des Südtiroler Unterlandes. Grundzüge und Haupttatsachen, in: Südtiroler Kulturinstitut (ed.), Das Südtiroler Unterland, Athesia, Bozen 1980, 35-62.