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Ansichten mit Sprengkraft in Auer Heinrich Ritsch

von Thomas Winnischhofer

„Dreiundvierzig, die alle gleichzeitig in die Luft flogen in der ‚Feuernacht‘, eine spektakuläre Aktion, perfekt organisiert, gewissenhaft, geduldig. Mit einem Wort: deutsch“.[1] Mit dieser ironisch gemeinten Aussage beschreibt die italienische Autorin Francesca Melandri in ihrem Bestsellerroman „Eva schläft“ die Ereignisse in der Nacht vom 11. auf den 12. Juni 1961. Damals sprengte der Befreiungsausschuss Südtirol (BAS) landesweit zahlreiche Strommasten, um auf diesem Weg die Energieversorgung zu kappen und die Bozner Industriezone – Inbegriff faschistischer Zuwanderungspolitik – lahmzulegen. Der Müllersohn Heinrich Ritsch war ein Mitglied des BAS, hat schlussendlich aber nie selbst bei einem Attentat mitgewirkt. Nichtsdestotrotz war er Zeitzeuge eines einschneidenden und sehr konfliktgeladenen Moments der jüngsten Südtiroler Geschichte.     

Die Bomben der Feuernacht sollten zwar nur Sachschäden anrichten, dennoch kam beim „großen Schlag“[2] der Straßenarbeiter Giovanni Postal ums Leben, als er am darauffolgenden Morgen in Salurn einen Blindgänger entdeckte. In den kommenden Monaten und Jahren forderten die Bomben zahlreiche weitere Opfer, v. a. als nicht mehr allein der Südtiroler BAS, sondern auch internationale Geheimdienste und rechtsextreme Gruppierungen ihre Interessen mit Sprengstoff zu untermauern versuchten.[3] Erst in den 1980er-Jahren konnte das Land aufatmen. Begonnen hatte diese Schreckenszeit mit den noch recht „bescheidenen“ Anschlägen einer kleinen Gruppe rund um den Gemischtwarenhändler Sepp Kerschbaumer aus Frangart. Sie handelten aus Verbitterung und Wut über den Verbleib Südtirols bei Italien und weil der italienische Staat die Versprechen des Ersten Autonomiestatuts von 1948 offenkundig und in vielerlei Hinsicht ignorierte, vornehmlich beim sozialen Wohnbau und im Bildungswesen. Vor der Feuernacht wurden so schon das Grab von Ettore Tolomei auf dem Montaner Friedhof und sein Haus in Glen zum Ziel von Sprengstoffanschlägen,[4] auch wurde der sogenannte „Aluminium-Duce“ von Waidbruck im Jänner 1961 dem Erdboden gleichgemacht. Der Kopf des dabei enthaupteten Aluminium-Pferdes befindet sich heute im Museum des „Tirol Panorama“ in Innsbruck.   

Heinrich „Heindl“ Ritsch war zum Zeitpunkt der ersten Attentate keine 40 Jahre alt und hatte schon einiges erlebt. Am 9. Juni 1923 in Kurtatsch geboren, war seine Familie durch den Beruf des Vaters viel herumgekommen: Dieser besaß Mühlen in Neumarkt, Auer, Truden, Branzoll und Vintl. Schon früh musste Heindl dem Vater zur Hand gehen. Trotz der schlimmen Weltwirtschaftskrise litten die Ritsch nie Hunger, denn zum Glück war immer genug Mehl – vor allem Polenta – im Haus. Der vom Faschismus erzwungene Besuch der italienischen Schule hinterließ bittere Erinnerungen, genauso wie seine Zeit bei der Luftwaffe der deutschen Wehrmacht, zu der Heindl mit nur 17 Jahren eingezogen wurde. Sein jüngerer Bruder Otto fiel 1944 in Südalbanien. Nach dem Krieg verschlug es Heindl wieder nach Auer, während der Rest der Familie in Vintl eine Mühle übernahm. Er eröffnete eine Fahrradwerkstatt im Haus Leonardelli am Kirchplatz, die ihm das Überleben sicherte.

Zu Beginn der 1960er-Jahre stieß er zur Aurer Fraktion des BAS, die allerdings nie aktiv wurde.

Lange kursierte im Dorf das Gerücht, dass der damals gehortete Sprengstoff noch irgendwo versteckt sei – und tatsächlich fand Thomas Winnischhofer im Juni 2021 in einer kleinen Felshöhle neben dem Montanerbachl das Versteck: rund 60 Kilogramm Sprengstoff in großen und kleinen Säcken verpackt sowie 50 Meter Zündschnur. Ausschlaggebend waren die Recherchen zu dieser Biografie, die ihn bei seiner mehrtätigen Suche in die richtige Richtung lotsten.[5]    

Heinrisch Ritsch

Heindl selbst hat wohl nie mit diesem Sprengstoff hantiert, ebenso befand er sich zum Zeitpunkt der Feuernacht in Innsbruck, wo er eine Anstellung als Chauffeur gefunden hatte. Sein Name stand trotzdem auf der Fahndungsliste, weshalb er, wie viele andere BAS-Mitglieder, im „Exil“ untertauchte. Hier soll er gemeinsam mit Luis Amplatz an Untergrundaktionen teilgenommen haben. Nachweisen konnte ihm die Justiz aber nie etwas, sodass er bei keinem der zwei Mailänder Sprengstoffprozesse (1963/64, 1966) angeklagt wurde. Er ließ sich in Nordtirol nieder, wo ihn einige Aurer Jahrgangskollegen regelmäßig besuchten. Erst als sich die politische Lage mit dem Inkrafttreten des Zweiten Autonomiestatus 1972 zunehmend beruhigte, traute sich Heindl hin und wieder nach Hause zu seinen Geschwistern. Heindl Ritsch starb 2009 in seiner Wahlheimat Leutasch in Tirol. 

Bis heute sind die Südtiroler Bombenjahre ein vieldiskutiertes Thema, das mehr Fragen aufwirft, als dass es Antworten bietet.[6] Wer genau wann und wo involviert war, das konnte in einigen aber nicht in allen Fällen geklärt werden. Fakt ist, dass die anfängliche Gesinnung des sehr religiösen Sepp Kerschbaumer schnell in Vergessenheit geriet (er starb 1964). Das Vorgehen der Attentäter wurde radikaler und schonungsloser, und zwar auf allen Seiten. Die zuweilen vorgebrachte Meinung, die Sprengstoffanschläge hätten die für Südtirol vorteilhaften UNO-Resolutionen von 1960/61 sowie die späteren Paketverhandlungen begünstigt oder gar beschleunigt, kann weder bestätigt noch widerlegt werden. Allerdings ist der renommierte Historiker und Südtirol-Experte Rolf Steiniger überzeugt, dass der Prozess der Autonomiefindung langsam, aber stetig vonstattenging, und zwar nicht wegen, sondern eher trotz der Attentate.[7]          

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Fußnoten

[1] Francesca Melandri, Eva schläft, Heyne, München 2012, S. 73.

[2] Leopold Steurer, Die „Feuernacht“: Hintergründe und Scheitern einer Strategie, „Geschichte und Region/Storia e regione“, 20 (2011), S. 103-121.

[3] Hans Karl Peterlini, Bomben aus zweiter Hand. Zwischen Gladio und Stasi: Südtirols missbrauchter Terrorismus, Edition Raetia, Bozen 1992.

[4] È stata fatta saltare la tomba del sen. Tolomei, „Alto Adige“, 23.11.1957, S. 4; Secondo attentato: dinamite nella casa di Tolomei, „Alto Adige“, 2.02.1961, S. 1.

[5] Das versteckte Depot, https://www.tageszeitung.it/2021/06/17/das-versteckte-depot/ [30.09.2021].

[6] Hans Karl Peterlini, Methode und Urteil. Die Feuernacht in den Deutungen der Geschichtswissenschaft: Eine Auseinandersetzung, „Geschichte und Region/Storia e regione“, 20 (2011), S. 135-154.

[7] Rolf Steininger, Südtirol zwischen Diplomatie und Terror 1947–1969, Athesia, Bozen 1999, Bd. 3, S. 837.

Bibliografie

Das versteckte Depot, https://www.tageszeitung.it/2021/06/17/das-versteckte-depot/.

È stata fatta saltare la tomba del sen. Tolomei, „Alto Adige“, 23.11.1957, S. 4.

Gehler, Michael, Von St. Germain bis zum „Paket“ und „Operationskalender“: Der 50-jährige steinige Weg zur Autonomielösung der Südtirolfrage 1919-1969, in: Barlai, Melani/Griessler, Christina/Lein, Richard (eds.), Südtirol. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Nomos Verlag, Baden-Baden 2014, S. 13-47.

Peterlini, Hans Karl, Bomben aus zweiter Hand. Zwischen Gladio und Stasi: Südtirols missbrauchter Terrorismus, Edition Raetia, Bozen 1992.

Peterlini, Hans Karl, Methode und Urteil. Die Feuernacht in den Deutungen der Geschichtswissenschaft: Eine Auseinandersetzung, „Geschichte und Region/Storia e regione“, 20 (2011), S. 135-154.

Secondo attentato: dinamite nella casa di Tolomei, „Alto Adige“, 2.02.1961, S. 1.

Solderer, Gottfried (ed.), Das 20. Jahrhundert in Südtirol, vol. 4, Edition Raetia, Bozen 1999.

Steininger, Rolf, Südtirol zwischen Diplomatie und Terror 1947–1969, 3 voll., Athesia, Bozen 1999.

Steurer, Leopold, Die „Feuernacht“: Hintergründe und Scheitern einer Strategie, „Geschichte und Region/Storia e regione“, 20 (2011), S. 103-121.

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