Migration ist eine Konstante der Menschheitsgeschichte. Seit jeher sind Personen, Gruppen und ganze Völker im Bewegung, und dieses Phänomen macht auch vor dem heutigen Südtirol nicht Halt, das aufgrund seiner strategischen Lage zwischen Nord und Süd im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Sprachen und Kulturen kennengelernt hat. Die Gründe für Ab- und Zuwanderung sind unterschiedlich, aber im Fall von Jasmina Stanisavljevic und ihrem Sohn Nenad war es der Wunsch einer Zukunft abseits von Armut und Gewalt. In den 1990er-Jahre brachen sie nach Auer auf, als ihr Heimatland unter Bomben verschwand.
Als Jugoslawien noch als sozialistische föderative Republik bestand, lebte Jasmina mit ihrem damaligen Mann in Kragujevac, einer großen Stadt im Zentrum der heutigen Republik Serbien. Hier wurde Nenad 1982 geboren. Knappe sieben Jahre später zerbrach die Ehe der Eltern. Ein Umzug war die Folge, und zwar in die Kleinstadt Bela Crkva in den äußersten Osten des Landes, nur wenige Kilometer von der rumänischen Grenze entfernt. Jasmina war eine professionelle Schneiderin, die selbst das Nähen von Pelzmänteln und Brautkleidern beherrschte, aber trotz ihrer Fähigkeiten und der vielen Arbeit waren Geld sowie Nahrungsmittel oft knapp. Die Jugoslawienkriege hatten die serbische Wirtschaft in die Knie gezwängt und eine starke Inflation verursacht. Internationale Embargos und die UN-Sanktionen, die als Reaktion auf den Despotismus von Slobodan Milošević verhängt wurden, verschlimmerten die Lage zusätzlich. Uneinsichtig beharrte der Präsident auf seine Interessen, während das Volk in Armut versank.[1] Nenad erinnert sich, dass sein Vater, ein Mechaniker für Industriemaschinen, statt eines Gehalts mit Essensmarken bezahlt wurde.
Wie ein Traum erschienen Familie Stanisavljevic die Fotos, die per Post aus Südtirol kamen.
Zwei Tanten lebten nämlich schon seit vielen Jahren im Unterland und als die finanzielle Situation in Serbien immer prekärer wurde, vermittelten sie Jasmina 1997 eine Stelle als Erntehelferin in Auer. Nenad war zu jung zum Arbeiten und blieb in Serbien, wo er mehr oder weniger auf sich allein gestellt war. Eigentlich wollte seine Mutter nur wenige Monate von zuhause weg sein, doch sie fühlte sich in Südtirol dermaßen wohl, dass sie hierbleiben und Nenad so schnell wie möglich zu sich nach Auer holen wollte. Viele Dokumente waren vonnöten, genauso wie Geld für eine eigene Wohnung. Sie ging drei Arbeiten gleichzeitig nach, aber trotz allem blieb die Gesetzeslage schwierig.
Fast das gesamte 20. Jahrhundert hindurch war Italien von einer starken Abwanderung geprägt gewesen. Das galt auch für Südtirol, wo Fremde lange Zeit nur temporär zur Saisonarbeit „einwanderten“ – vornehmlich aus Polen, der damaligen Tschechoslowakei und Ungarn. Erst um 1985 ließen sich die ersten Nicht-EU-Bürger dauerhaft hier nieder. Auf ihre Ankunft war das Land nicht vorbereitet und es gab damals noch kein Einwanderungsgesetz, mit dem sie ihren Status legalisieren hätten können. Erst 1990 erkannte Italien und somit auch Südtirol das Asylantenrecht gemäß Genfer Flüchtlingskonvention an und noch viel später, es war das Jahr 1998, wurde ein allumfassendes Migrationsgesetz erlassen.[2] Doch Gesetze helfen den Flüchtenden nicht, wenn von politischer Seite kein wirkliches Interesse an deren Umsetzung besteht. Und so war die soziale und vor allem menschliche Lage „neuer“ Südtirolerinnen und Südtiroler oftmals prekär.[3]
Zwei Jahre zogen ins Land, in denen Mutter und Sohn nur telefonieren konnten, wobei Nenad dafür eigens zu einem befreundeten Nachbarn gehen musste: Telefonapparate waren ein Luxus. Während Jasmina die nötigen Vorbereitungen traf, spitzte sich die Lage in Serbien zu. Als Nenad eines Nachmittags mit seinen Inline-Skates auf der Straße unterwegs war, forderte ihn der Vater eines Freundes dazu auf, sofort ins Haus zurückzukehren: der Krieg habe gerade begonnen! Eine ganze Nacht lang verschanzte sich der Sechszehnjährige allein unter Fremden in einem Bunker, doch nichts passierte. Erleichtert verließ er am nächsten Morgen den Unterschlupf und war sich sicher, dass das Ganze nur ein Fehlalarm gewesen sei. Er besuchte Freunde in Novi Sad, einer Stadt im Norden Serbiens. Am Abend spazierten sie dort zu zweit auf offener Straße, als plötzlich Fliegersirenen aufheulten und ein näherkommendes Pfeifen zu hören war. Gerade rechtzeitig warf sich Nenad in einen Hauseingang, als nur wenige hundert Meter entfernt zwei NATO-Bomben eine Brücke zerstörten. Es war der 24. März 1999: Der Kosovokrieg hatte begonnen. 78 Tage sollte er dauern, mit vielen Bombardements und zahlreichen zivilen Opfern. Der NATO-Militäreinsatz in Serbien, besser bekannt als „Operation Allied Force“, sollte angeblich eine Eskalation des Kosovo-Konflikts vermeiden. Allerdings ist dessen Legitimität abseits jeglicher UN-Resolution bis heute umstritten.[4]
Über das Radio verfolgte Jasmina panisch die Entwicklungen in Serbien. Der Ausbruch des Krieges ermöglichte es ihr endlich, ihren Sohn nach Italien zu holen. Und als es soweit war, hatte Nenad nur eine Woche Zeit, um sich von seinem bisherigen Leben zu verabschieden. Der allesentscheidende Anruf seiner Mutter löste Freude und zugleich Unsicherheit aus: ein fremdes Land, keine Freunde, ein Neuanfang. Er hatte aber das instinktive Gefühl, dass sich für ihn eine Tür in die Zukunft öffnete. Er zog zu seiner Mutter in eine Wohnung im Zentrum von Auer. Die Anfangszeit war für den Teenager nicht einfach, denn er sprach nur Serbisch und Englisch. Letzteres hatte er beim Fernsehschauen in seiner alten Heimat gelernt, da ausländische Filme dort nicht synchronisiert, sondern nur untertitelt wurden. Durch den Sport fand er Anschluss zu Gleichaltrigen. Das Inline-Skating war und ist für ihn ein Lebenselixier, schon 1998 hatte er in Belgrad an wichtigen Landesmeisterschaften teilgenommen. Auch arbeitstechnisch krempelte er die Ärmel hoch. Seine erste Anstellung war ein Aushilfsjob bei einem Kunststoffhersteller in Leifers, aber das war nur die erste Etappe auf der Karriereleiter: binnen weniger Jahre hat er sich vom Handlanger zum Business Manager eines erfolgreichen Kurtatscher Unternehmens hochgearbeitet. 2015 fällte er dann die radikale Entscheidung, nach Thailand auszuwandern. Auf der Insel Ko Phangan hat er sich als Personal Trainer ein neues Leben und eine eigene Familie aufgebaut, aber trotz Strand und Palmen kann er es kaum erwarten, mit seinem Sohn und seiner Lebensgefährtin Auer zu besuchen. Auch Jasmina ist mittlerweile weggezogen, und zwar nach Wien, wo ihr ältester Sohn lebt.
Nenad hat 17 Jahre seines Lebens in Auer verbracht und ist unglaublich dankbar für diese Erfahrung. Er musste viele Schwierigkeiten meistern, eine neue Sprache lernen, sein Leben mehrmals von Null beginnen und dabei gegen Vorurteile ankämpfen. Aber er ist menschlich über sich hinausgewachsen und möchte keine Sekunde seiner Erinnerungen missen.
[1] Ernst Lohoff, Der Dritte Weg in den Bürgerkrieg. Jugoslawien und das Ende der nachholenden Modernisierung, Horlemann Verlag, Bad Honnef 1996, S. 154–156.
[2] Gottfried Solderer, Südtirol im 20. Jahrhundert, Edition Raetia, Vol. 5, Bozen 2003, 140f.
[3] Sarah Oberbichler/Franziska Niedrist, Flucht nach Südtirol: Der politische Diskurs seit 1990, in: Eva Pfanzelter/Dirk Rupnow, einheimisch – zweiheimisch – mehrheimisch. Geschichte(n) der neuen Migration in Südtirol, Edition Raetia, Bozen 2017, 71–88.
[4] Kurt Gritsch, Krieg um Kosovo. Geschichte, Hintergründe, Folgen, University Press, Innsbruck 2016.
Lohoff, Ernst, Der Dritte Weg in den Bürgerkrieg. Jugoslawien und das Ende der nachholenden Modernisierung, Horlemann Verlag, Bad Honnef 1996.
Solderer, Gottfried, Südtirol im 20. Jahrhundert, Edition Raetia, Vol. 5, Bozen 2003.
Gritsch, Kurt, Krieg um Kosovo. Geschichte, Hintergründe, Folgen, University Press, Innsbruck 2016.
Melčić, Dunja (ed.), Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zur Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007.
Oberbichler, Sarah/Niedrist, Franziska, Flucht nach Südtirol: Der politische Diskurs seit 1990, in: Pfanzelter, Eva/Rupnow, Dirk, einheimisch – zweiheimisch – mehrheimisch. Geschichte(n) der neuen Migration in Südtirol, Edition Raetia, Bozen 2017, 71–88.
Wittkowsky, Andreas, Grand Hotel Kosovo. Schlaglichter einer europäischen Staatsbildung, LIT Verlag, Berlin 2012.