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Jüdisches Leben in Auer Ida Kaufmann

von Donatella Vivian

Fast acht Jahrzehnte sind seit dieser schrecklichen Zeit vergangen – den Jahren zwischen 1938 und 1945, in denen ein Stempel im bzw. auf dem Ausweis genügte, um zunächst nicht mehr als Staatsbürger und dann als vermeintlich „unwertes“ Leben zu gelten. Auf die Nürnberger Gesetze von 1935 folgten zwischen September und November 1938 ähnliche Gesetze in Italien.[1] Im August desselben Jahres mussten Juden in Italien bei einer Volkszählung ihre „Rasse“ angeben,[2] anschließend wurde ihr Alltagsleben durch immer schärfere Maßnahmen nach und nach eingeschränkt.[3]

Meine Recherche zu diesem Thema ging vorerst von gedruckten Quellen und Webseiten aus.[4] Das Thema Shoah und Antisemitismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde mittlerweile fundiert aufgearbeitet – speziell seit den 1980er-Jahren. Die Literatur ist endlos und es bestand für mich das Risiko, unzählige Informationen zu horten und dabei meine eigentliche Fragestellung aus den Augen zu verlieren: Lebten Menschen jüdischer Abstammung in Auer? Was ist mit ihnen nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Südtirol am 8. September 1943 passiert? Wir wissen, dass schon am darauffolgenden Tag mehrere Männer, Frauen und Kinder in Bozen festgenommen und ins Gefängnis gebracht wurden – dasselbe ereignete sich am 16. September in Meran und am 22. September am Ritten.[5] Aber konnte sich eine ähnliche Tragödie auch in Auer ereignen, wo gegen Ende der 1930er-Jahre nur knapp 2.000 Menschen lebten?[6]

Frau Antonia – wer erinnert sich nicht an die ehemalige Aurer Dorflehrerin? – erzählte oft von damals. Sie deutete nur an, ohne ihre Aussagen genauer zu vertiefen und ließ zahlreiche Fragen offen. Mit der Zeit habe ich verstanden, dass sie viel wusste und wohl selbst einiges miterlebt hatte, aber sie hatte Angst davor, über diese Ereignisse zu sprechen.

Wer waren diese Leute? Wie hießen sie? Wo haben sie gelebt? Und was ist mit ihnen passiert?

Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, konnte ich mich nicht nur auf die Literatur verlassen. Ich musste historische Archive durchforsten: Das Archiv der Ärzte- und Zahnärzte des Landes, die Gemeindearchive, das Archiv der jüdischen Gemeinschaft in Meran sowie andere schriftliche Quellen, darunter Briefe oder Zeitzeugenberichte. Auf diese Weise entdeckte ich zuerst einen Namen, dann einen weiteren, noch einen und schließlich hatte ich ganze Familien beisammen. Weshalb waren sie nach Auer gekommen? War diese Entscheidung freiwilliger Natur oder waren sie dazu gezwungen worden?

Aber der Reihe nach: Die erste Person, die ich „kennenlernte“, war eine bescheidene, finanziell unabhängige und alleinstehende sechzigjährige Frau, die am 30. Mai 1883 in Wien zur Welt gekommen war und viele Jahre in Auer verbracht hat, zuerst im Fuchsloch Nr. 22, dann in der Wasserfallstraße Nr. 2. Sie hieß Ida Kaufmann und ihre Identitätskarte wird immer noch im Meldeamt der Gemeinde Auer aufbewahrt, mit Angaben zu Vater und Mutter, ihrem Wohnort und Beruf. Leider fehlt ein Foto. Dank eines Inserats in der „Meraner Zeitung“ wissen wir, dass sie 1907 bereits in Bozen lebte und auf Arbeitssuche war.[7] Im historischen Archiv von Auer gibt es ein Verzeichnis aller ausländischen Bürgerinnen und Bürger, die zu jener Zeit im Dorf ansässig waren. Dem entnehmen wir die Information, dass Ida Kaufmann als Buchhalterin für die Handelsfirma Steinkeller tätig war. Bei einem Gespräch im Jahre 2016 gab mir Hansjörg Steinkeller einen Einblick in seine Erinnerungen: Ida hat viele Jahre für die Handelsfirma seiner Familie gearbeitet. Sie wohnte zunächst in der Nähe des Happacherhofes und mietete später ein Zimmer bei Maria von Fioreschy. Sie war eine tüchtige Buchhalterin und Schreibkraft. Sie lebte sehr zurückgezogen und ihr Leben bestand aus dem täglichen Einkauf im Geschäft Simonini, das sich einst am Kirchplatz befand, und dem Kirchenbesuch – bis zum Vormittag des 15. September 1943, als ein deutscher Funktionär in zivil in ihrem Büro vorstellig wurde, um sie abzuholen und ins Bozner Gefängnis zu bringen.[8]

Aber warum Ida, die sich als gläubige Christin verstand?

Auf ihrer Identitätskarte befinden sich zwei Stempel: zuerst wurde sie als „arische Rasse“ gekennzeichnet, doch das wurde in einem zweiten Moment mit „jüdische Rasse“ überstempelt.

Warum diese beiden Stempel? Womöglich galt sie aufgrund der „Rassengesetze“ als nicht mehr gänzlich „arisch“, da sie entweder einen jüdischen Großvater bzw. eine jüdische Großmutter hatte. Aber wie war diese Information nach Auer gelangt? Hatte jemand in Wien nachgefragt oder wurde sie verraten? Wir werden es wohl nie erfahren. 

Postkarte an Ida Kaufmann

Nach ihrer Verhaftung kam Ida Kaufmann mit großer Wahrscheinlich mit einer Gruppe Meraner Personen ins Lager Reichenau bei Innsbruck, anschließend wurde sie nach Auschwitz deportiert. Friedl Volgger war ebenfalls eine Zeitlang als politischer Häftling in Reichenau:

Ich werde nie diesen kleinen Haufen hungriger, durstiger und eingeschüchterter Menschen im Konzentrationslager [Arbeits- bzw. Durchgangslager, Anm. d. V.] Reichenau bei Innsbruck vergessen, die zur Zwangsarbeit bestimmt waren … Männer, Frauen und Kinder waren gezwungen, den ganzen Tag in tiefster Kälte im Freien zu bleiben. Niemand konnte an sie herankommen. Eine Wache teilte mir mit, dass sich die Gruppe mehrheitlich aus Juden aus Meran zusammensetzt. Eines Tages, oder besser gesagt, eines nachts, verschwanden sie. Wir Häftlinge im Lager schauten uns deutlich gegenseitig an. Die Juden waren an Orte transportiert worden, von denen man nur selten ein Rückreiseticket erhielt.[9]

Ida Kaufmann hat die Shoah nicht überlebt. Ihr genaues Todesdatum ist nicht bekannt, wie man der zentralen Datenbank der Namen der Holocaustopfer des Yad Vashem entnehmen kann.[10]

Ida war im Dorf nicht die einzige Person jüdischer Abstammung. So gab es beispielsweise auch die Familie Thalheimer, bestehend aus dem Arzt Ludwig, seiner Frau Josefine und Sohn Walter. Sie lebten seit 1938 in Auer, zunächst in einem Mietzimmer, dann in einer Wohnung in der alten Nationalstraße Nr. 49. Ludwig war 1938 in Dachau inhaftiert gewesen, weshalb die Familie beschloss, von Deutschland nach Bozen zu fliehen. Als Präfekt Giuseppe Mastromattei am 22. Juli 1939 mit einem Erlass beschloss, dass alle in der Provinz Bozen verbliebenen ausländischen Juden das Gebiet innerhalb von 48 Stunden verlassen mussten, zogen sie, wie viele andere Familien, ins nahegelegene Unterland, das damals zur Provinz Trient gehörte. Ihre Familiengeschichte ist uns bekannt, da Walter in kleinen Heften mit schwarzem Umschlag ausführlich und ganz eng geschrieben Tagebuch führte.[11] Bis 1943 verlief das Leben der Familie in Auer relativ sorglos, trotz kriegsbedingter Einschränkungen und der Tatsache, dass Ludwig nicht mehr praktizieren konnte. Wer den Arzt aber um Hilfe bat, wurde nicht zurückgewiesen. Wir wissen, dass er z.B. eine kinderreiche Familie kostenlos behandelte, da sie sich keine medizinische Versorgung leisten konnte. 

Am Abend des 8. September wurden Ludwig und sein Sohn Walter gemeinsam mit dem ebenfalls in Auer ansässigen David Wischkin von örtlichen Beamten festgenommen und in die Caserma dei pionieri nach Leifers gebracht, die als Gefängnis fungierte. Am darauffolgenden Vormittag verließen sie ihre Zelle, da sie der Wache geistesgegenwärtig vorgaukelten, sie seien bloß wegen eines Verstoßes der nächtlichen Ausgangssperre festgenommen worden. Auf abenteuerliche Weise gelang ihnen die Flucht in die Schweiz, wo sie, laut Walters Tagebuch, von Oktober 1943 bis Kriegsende blieben. Auch Familie Wischkin gelang auf waghalsige Weise die Flucht: zuerst nach Mailand, dann in die Schweiz. Oberhaupt der Familie war der in Lettland geborene Mendel Wischkin, Inhaber einer Obsthandelsfirma und Partner von Stefan Macek aus Auer, der im Unterland Lagerhäuser sowie Grund besaß. Familie Wischkin – Vater Mendel, Mutter Pessa Troki und die Kinder Ida und David, der als Arzt tätig war – lebte seit 1939 in Auer. Im historischen Archiv der Gemeinde ist ein reger und zum Teil noch nicht studierter Schriftverkehr verwahrt, zwischen der Königlichen Polizeidirektion von Trient, dem Podestà von Auer, Sebastiano Secchi, und Mendel Wischkin. Zwischen dem 7. Oktober 1939 und dem 22. Oktober 1941 suchte Letzterer mehrmals um eine Verlängerung seines Aufenthaltsrechts in Auer an.[12] Im September 1943 folgt dann die Flucht und nach 1945 die erneute Rückkehr nach Südtirol.[13]

Josefine Thalheimer geb. Knoll, Ludwig Thalheimer, Auer, Juni 1941

Andere hingegen, die hier gelebt und Zuflucht gesucht hatten, erwartete ein schlimmeres Schicksal. Martin Krebs etwa, über den wir nicht viel wissen. Er war am 10. Oktober 1899 in Bregenz geboren und hatte für lange Zeit in Meran gelebt und gearbeitet. Er war in die jüdische Gemeinde eingeschrieben,[14] war verheiratet und hatte einen Sohn.[15] Es ist ein Dokument des Internationalen Roten Kreuzes überliefert, laut dem seine letzte bekannte Adresse im Aurer Bildstöcklweg Nr. 10 war. Darin enthalten ist auch die Information, dass Martin 1944 in Mailand festgenommen und mit dem Konvoi Nr. 14 nach Auschwitz gebracht wurde, wo er im Dezember 1944 im Außenlager Charlottengrube starb.[16]

Kurt Buchsbaum, Architekt, war 1891 in Cheb im heutigen Tschechien geboren. Seine Familie hat viele Jahre in Meran gewohnt und war dort gut in die bürgerliche Gesellschaft integriert. Sein Bruder Felix war 1917 im Krieg gefallen.[17] Aus den Unterlagen des historischen Archivs von Meran geht hervor, dass Kurt/Curzio 1939 nach Auer umzog.[18] Wohin genau, ist trotz intensiver Recherchen nicht bekannt. Bestätigt ist hingegen, dass er bereits vor dem 8. September 1943 in der Provinz Vicenza[19] und anschließend im Durchgangslager von Tonezza del Cimone interniert war.[20] Er wurde mit dem Konvoi 06 am 30. Januar 1944 nach Auschwitz deportiert.[21] Von ihm gibt es keine weiteren Berichte.

Ida, Kurt und Martin sind von ihrer Deportation nie wieder zurückgekehrt und die Erinnerung an ihr Schicksal droht zu verblassen. Wir haben aber die Möglichkeit, mit Stolpersteinen an sie zu erinnern, wie sie in Bozen beispielsweise vor den ehemaligen Wohnhäusern der Familie Carpi oder des Loew Cadonna verlegt worden sind. Der Talmud lehrt: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“.[22]

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Fußnoten

[1] Claudio Vercelli, 1938. Francamente razzisti. Le leggi razziali in Italia, Edizioni del Capricorno, Torino 2018.

[2] Die Volkszählung wurde durchgeführt, um Personen jüdischer Abstammung oder Religion zu identifizieren und zu überwachen. Sie war die Voraussetzung für den Erlass der „Rassengesetze“ (etwa 47.000 Menschen wurden registriert).

[3] Beamte und Freiberufler durften z.B. nicht mehr arbeiten, jüdische Kinder durften keine öffentlichen Schulen besuchen, auch jüdischen Lehrern wurde der Unterricht auf allen Bildungsebenen untersagt.

[4] S. Bibliografie und Internetverzeichnis.

[5] In Bozen wurden Renzo und Alberto Carpi verhaftet, in Meran wurden jüdische Bürgerinnen und Bürger im Haus Balilla eingesperrt, am Ritten wurden Ilse Eckstein Kornblum und ihre Tochter Ruth abgeholt.

[6] Volkszählung vom 21.04.1936: 1.919 Personen.

[7] „Junges Mädchen, Kontoristin die 8 Jahre in einem Hause mit selbständiger Buchführung beschäftigt war, sucht Stelle. Ida Kaufmann. Bozen, Bindergasse, 7, 2. Stock“. In: „Meraner Zeitung“, 6.12.1907, 9.

[8] Dokument Nr. 2628 über die Übernahme der verhafteten Ida Kaufmann. Mit Personenbeschreibung: Höhe 1,55 m, graues Haar, graue Augen; Unterschrift des Chefs der Gefängniswache, des weiteren die Angabe, dass Kaufmann von einem deutschen Polizeibeamten übergeben worden war und der Polizei zur Verfügung stehen musste sowie das Datum 15.09.1943 und zwei Unterschriften des Häftlings.

[9] Joachim Innerhofer/Sabine Mayr, Quando la patria uccide, Storie ritrovate di famiglie ebraiche in Alto Adige, Edition Raetia, Bozen 2017, 128.

[10] https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=de&advancedSearch=true&ln_value=Kaufmann&ln_type=synonyms&fn_value=Ida&fn_type=synonyms&yb_value=1883&yb_type=Exact&fate_value=murdered&cluster=true [06.11.2021].

[11] 22.02.2016: Treffen mit seinem Sohn Ludwig Thalheimer.

[12] Joachim Innerhofer/Sabine Mayr, Mörderische Heimat. Verdrängte Lebensgeschichten jüdischer Familien in Bozen und Meran, Edition Raetia, Bozen 2015, 230.

[13] Interview mit der Enkelin Esther Schmorack am 19.12.2016 in Meran.

[14] Federico Steinhaus, Ebrei/Juden. Gli ebrei dell’Alto Adige negli anni trenta e quaranta, La Giuntina, Firenze 1994, 164.

[15] Verheiratet mit Sarah Cornrich, englische Staatsbürgerin, der es ebenfalls gelang, mit ihrem Sohn Robin aus Meran zu fliehen. Innerhofer/Mayr, Mörderische Heimat, op. cit., 239.

[16] Dokument der „Association of jewish refugees in great britain“.

[17] „Bozner Nachrichten“, 28.02.1917, 3.

[18] Historisches Stadtarchiv Meran, SAM CE 1.170; Buchsbaum Kurt SAM CE 2.54-doc. Akt Nr. 25; Schreiben der Stadt Meran vom 30.10.1939, mit dem die Gemeinde Meran die Gemeinde Auer über die Überführung am 30.07.1939 informierte.

[19] Quelle MI,DG DR (Generaldirektion Demographie und Rasse), aff. Div. (1938-1945), b.17 f.II19: Ziviles Gebot der Juden zu Arbeitszwecken, s.f.95 Vicenza Konzentrationsort: Colonia Umberto I; Liste 1 Nummer 28. aus Elenco Archivio di Stato di Vicenza.

[20] Liliana Picciotto, Il libro della memoria. Gli ebrei deportati dall’Italia (1943-1945), Mursia, Milano 1991, 157.

[21] Der Konvoi 06 ging vom Bahnhof Mailand, Bahnsteig 21, ab. Alberto und Liliana Segre waren ebenfalls an Bord.

[22] www.stolpersteine.eu [06.11.2021].

Bibliografie

Innerhofer, Joachim/Mayr, Sabine, Mörderische Heimat. Verdrängte Lebensgeschichten jüdischer Familien in Bozen und Meran, Edition Raetia, Bozen 2015.

Picciotto, Liliana, Il libro della memoria. Gli ebrei deportati dall’Italia (1943-1945), Mursia, Milano 1991.

Steinhaus, Federico, Ebrei/Juden. Gli ebrei dell’Alto Adige negli anni trenta e quaranta, La Giuntina, Firenze 1994.

Steinhaus, Federico, Storie di Ebrei. Contributi storici sulla presenza ebraica in Alto Adige e nel Trentino, Jüdische Gemeinde Meran, Meran 2004.

Vercelli, Claudio, 1938. Francamente razzisti. Le leggi razziali in Italia, Edizioni del Capricorno, Torino 2018.

Villani, Cinzia, Zwischen Rassengesetzen und Deportation. Juden in Südtirol, im Trentino und in der Provinz Belluno 1933 – 1945, Wagner Verlag, Innsbruck 2003.

www.stolpersteine.eu

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